Nationale und globale Sicherheit:
Eine Mindmap des Problemgeflechts der deutschen Sicherheitspolitik Lagebild 2019 (1) Lagebild 2019 (2)
Wir leben in einer Zeit vieler Ungewissheiten über die Fortentwicklung unseres Gemeinwesens. Bislang selbstverständlich Geglaubtes in allen Bereichen von Staat, Gesellschaft, Ökonomie, Weltpolitik und Lebensgefühl steht in Frage. Die aktuelle Pandemie ist ein besonders gravierendes Beispiel, dass das Undenkbare möglich sein kann. Die Wiedervereinigung ist ein Beispiel, dass sich Umbrüche natürlich auch zum Positiven wenden können, dass sie aber durchaus nicht immer vorhersehbar sind und sehr rasant mit hohem Handlungszwang ablaufen können. Im Inneren scheint „Wohlstand für alle“ auch kein Erfolgsmodell mehr und die deutsche Industriegesellschaft muss angesichts des Wandels von Technologie und Umwelt ihre Rolle als Garant für dauerhaften Wohlstand und soziale
Sicherheit immer wieder neu behaupten. Der Umgangston ist rauher geworden und der Konsens bröckelt, auch angefacht durch soziale Medien, in denen alles gesagt werden darf und nichts verbindlich ist oder eine Perspektive erkennbar wäre. Zu den in Frage stehenden Gewissheiten gehören auch Frieden und äußere Sicherheit. Die Zahl der selbstständig agierenden Spieler in der Weltpolitik nimmt zu. Deren politische Führer sind durchaus nicht immer von besonnener Staatsräson und dem Willen zu internationaler Kooperation geleitet. Die Demokratie erscheint im Augenblick eher im Rückzug und der Zusammenhalt des
Westens bröckelt. Die meisten Bundesbürger können sich noch nicht vorstellen, dass die Stabilität unseres deutschen und europäischen Gemeinwesens auch einmal durch Gewaltdrohungen von außen in Frage stehen könnte. Der große Bruder jenseits des Atlantiks wird es jedoch nicht immer richten und geht zunehmend eigene Wege. Für die geringe Aufmerksamkeit, welche die deutsche Gesellschaft der Sicherheitspolitik widmet, so wie das in der Pandemievorsorge auch der Fall war, könnte sie einmal einen höheren Preis bezahlen müssen als die beklagten Corona-Maßnahmen sie je eingefordert haben. Ein destabilisertes Kräftegleichgewicht in Europa mit gewaltsamen Grenzverschiebungen und Erpressungen durch konventionelle oder nukleare Potentiale , Risiken durch eine Vielzahl von Störungen unserer sensiblen Infrastruktur und Handelsketten, Verlust der politischen Handlungsfreiheit und ökonomischen Spielräume und Entfaltungsmöglichkeiten, der Zwang zur ständigen Anpassung an fremde Forderungen und Interessen unter Aufgabe eigener Maßstäbe bei der Gestaltung von Rechts- und Gesellschaftsordnungen in Europa und in der Welt. Die Uhren ticken woanders in der Welt nicht immer so wie Diskutanten auf Parteiversammlungen und in Talkshows es gerne hätten.
Das europäische Standbein in der westlichen Allianz muss unbedingt stärker werden und hier ist Deutschland besonders gefordert. 450 Millionen Europäer haben durchaus Ressourcen für die eigene Sicherheitsvorsorge, diese sind aber nicht so organsiert, dass sie effektiv und koordiniert einer entschlossenen Aggression entgegen treten könnten. …
Bei uns ist man ständig dem Vorwurf des Säbelrasselns ausgesetzt, wenn Bundeswehr und NATO auf die möglichen Bedrohungen reagieren. Man sollte bei der Darstellung immer herausstellen, dass die eigentliche Gefährdung nicht in einem massiven strategischen Angriff, wie zur Zeit des Warschauer Paktes besteht, sondern in der Destabilisierung einzelner Regionen an der russischen Peripherie. … Russland möchte den Westen spalten und seine Nachbarstaaten mit allen Mitteln unter Druck setzen können. Dabei ist auch nie auszuschließen, dass in einer allgemeinen Krisensituation und nach Destabilisierung des Westens NATO-Territorium, das einst zum sowjetischen Machtbereich gehört hatte, als Faustpfand genommen werden könnte. Die Einnahme der Krim 2014 war ein Lehrstück.
Wenn allerdings der Westen in solch einer Situation nicht bereit und fähig wäre, militärisch zu reagieren, würde die Allianz wahrscheinlich auseinanderbrechen und Russland eine Dominanz in Europa erlangen! Dies zu verhindern und durch ausreichende Verteidigungsfähigkeit in allen Spektren vor jedem kriegerischen Abenteuer abzuschrecken, muss Ziel einer friedenserhaltenden Politik in Europa sein. Dabei tritt das militärische Element neben politische, diplomatische, ökonomische und kulturelle Bemühungen. ...
Die russische Militärdoktrin beschreibt die Kräfte und Wirkmittel im Spektrum des hybriden Krieges und macht kein Geheimnis aus der Tatsache, dass die Russischen Föderation den Schutz von Russen über das eigene Territorium hinaus wahrnehmen würde. Sie versteht ihren strategischen Ansatz als defensive Maßnahme gegenüber einer Bedrohung aus dem Westen. Entscheidend ist dabei nicht die wahrgenommene, sondern die gefühlte Bedrohung, die sich auch daraus ergibt, dass das System Putin im Wettbewerb kaum zukunftsfähig ist. Russland verfügt über eine aggressive Militärdoktrin und ist ein einheitlich geführter autoritärer Akteur, der viele kleine Konflikte unterhalb der Art. 5 des NATO-Vertrages, der Schwelle für den Bündnisfall, schüren kann und damit den eigentlichen Bündnisfall unterläuft. Der politische Test kommt vor dem militärischen Test (Claudia Major).
Russland als autoritärer Staat unter einheitlicher Führung kann sehr schnell Entschlüsse fassen und Maßnahmen treffen und ist darin den Entscheidungsmechanismen der westlichen Demokratien und Allianzen überlegen. Die unter dem Schlagwort des hybriden Krieges umschriebenen Konfliktformen sind nicht grundsätzlich neu. Immer schon haben Konfliktparteien versucht, lange vor einem Waffeneinsatz die Gesellschaft und den Staat des Gegners zu zermürben....Angesichts dieser Bedrohung ist es unerlässlich, dass die Kohäsion im Bündnis gewahrt wird, damit Russland gar nicht erst in Versuchung kommt. Es braucht wohl keine Erläuterung, in welchem Maße die Trump-Administration, die derzeitige britische Regierung, aber auch einige andere westliche Länder, nicht unbedingt im Sinne einer multilateralen Allianz handeln und wieder in nationale Egoismen zurückfallen. Der Westen spricht nicht mit einer Stimme, um den Dreiklang von Verteidigungsbereitschaft plus Abschreckung plus Gesprächsbereitschaft (Defence, Deterrence, Dialogue) artikulieren zu können. Überall scheinen die Anhänger einer multilateralen und regelbasierten internationalen Ordnung in der Defensive. (JD). ...
Zu den Gefährdungen der äußeren Sicherheit durch klassisches Militär hat sich die Gefährdung unseres gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens durch die Cyberbedrohung gesellt. Hier reiht sich China als möglicherweise noch größeres Risiko für die Stabilität des Westens in die Gefährder ein.
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, unsere digitale Welt lahm zu legen und auf mannigfaltige Weise Schaden zu stiften. Das ist nicht nur das Stören von Steuerungssystemen oder der Diebstahl von Wissen und Daten, sondern auch die Verbreitung von Falschinformationen zur Einflussnahme auf die öffentliche Meinung. Das besondere Problem ist hier, dass man den Angreifer nicht eindeutig identifizieren kann und die Gefährdung oft auch erst zu spät wahrnimmt und die "Golden Hour", den optimalen Zeitpunkt für Gegenmaßnahmen, verpasst. Angesichts unserer komplizierten juristischen Beschränkungen kann man auch nicht schnell und einheitlich reagieren....
Immer im Hintergrund beim Einsatz von unseren Streitkräften stehen Rechtsfragen. Das Grundgesetz gebietet ein Nebeneinander von Militär und ziviler Verwaltung, was Entscheidungsprozesse nicht immer erleichtert. Die Verfassungsregelungen für den Verteidigungsfall gehen noch von dem klassischen Bild eines groß angelegten Angriffs von außen aus und passen nicht mehr so recht zu den verdeckten schleichenden Abläufen in einem hybriden Kriegsbild, wo auch die innere und äußere Sicherheit nicht mehr klar zu trennen sind, da die Bedrohung nicht mehr nur von Kombattanten ausgeht. Darf man nach einem Cyberangriff mit einem "Hack Back" auch offensiv gegen einen möglichen, aber sehr schwer zu identifizierenden Angreifer jenseits der eigenen Grenzen vorgehen? Und wer darf das? Die Bundeswehr oder die zivilen Behörden? Und dann wird in Katastrophen- und Terrorlagen auch immer wieder die Kontroverse um einen erweiterten Einsatz der Bundeswehr und die Auslegung des Artikels 35 zur Amtshilfe neu entfacht.
Zu den zentralen Fragen der Sicherheitspolitik gehört auch die nukleare Teilhabe.Die erste Funktion der Atomwaffen besteht immer noch in der Abschreckung jeder Aggression, weil der Angreifer das Risiko der eigenen Vernichtung vermeiden würde. Für den Fall des Versagens der Abschreckung, sollte das Vorhandensein zahlreicher nuklearer Gefechtsköpfe und Träger auf den verschiedensten Ebenen den Aggressor im Krieg vom Einsatz seiner Atomwaffen abhalten (“interwar deterrence”).
Die Palette der nuklearen Bewaffnung ist seit 1990 vor allem in der NATO reduziert worden. Die Zahl der Gefechtsköpfe wurde auf beiden Seiten reduziert. Die taktischen Gefechtsfeldwaffen der Landstreitkräfte sind in der NATO verschwunden, zur See und in der Luft bestehen aber weiterhin viele Möglichkeiten Kernwaffen aller Größenordnungen zum Einsatz zu bringen und in der klassischen strategischen Triade sind landgestützte Interkontinentalraketen, U-Bootgestützte Fernraketen und Bomber mit großer Reichweite vor allem in den Arsenalen der USA und der Russischen Föderation in großer Zahl weiterhin vorhanden. Das Reichweitenspektrum von landgestützten Marschflugkörpern und Raketen zwischen 500 und 5500 km war durch den INF-Vertrag von 1987 eigentlich vollständig abgebaut worden, aber dieses Abkommen ist durch die russsiche Stationierung von neuen Marschflugkörpern und den auch von den USA vollzogenen Ausstieg obsolet, zumal auch China und andere Kernwaffenstaaten nicht eingeschlossen waren. Die NATO wird bei einer "angemessenen Gegenreaktion" nicht mit landgestützten Mittelstreckenwaffen reagieren, aber die see- und luftgestützen Kernwaffen bieten immer noch viele Reaktionsmöglichkeiten. Durch hohe Präzision und Miniaturisierung der Gefechtsköpfe sind heute auch Interkontinentalwaffen in dem Spektrum der taktischen Gefechtsfeldwaffen und Mittelstreckenrakten einsetzbar. Die Technologie ist über den Stand von 1987 hinweggangen...
Aus deutscher und europäischer Sicht darf die taktische Abschreckung nicht von der strategischen Abschreckung auf dem Territorium der Supermächte abgekoppelt werden. Jedes Panzergefecht muss für einen Angreifer das hohe Risiko in sich bergen, möglicherweise sehr schnell den Stolperdraht für das Abfeuern strategischer US-Raketen gegen Ziele in Russland und damit die Gefahr einer Eskalation und globalen Apokalypse auslösen.Atomwaffen müssen politische Waffen bleiben. Somit haben die wenigen Atomwaffenträger der Bundeswehr letztlich vor allem als politische Waffen zu einer glaubwürdigen Abschreckung und Verknüpfung mit den Bündnispartnern beizutragen, gleiche Risiken zu teilen und gleiche Entschlossenheit zu signalisieren. Mit eigenen Beiträgen zur nuklearen Einsatzfähigkeit der Allianz sichert sich die Bundesrepublik die Mitsprache in der Nuklearen Planungsgruppe.
Hier geht es zum Untermenü: Neuer Träger für die nukleare Teilhabe
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